Gestaltungsprobleme im Ingenieurbau

In: “Fussgängerbrücken” von Jörg Schlaich und Rudolf Bergermann, Katalog zur Ausstellung an der ETH Zürich, Stuttgart 1992

Das Aufgelöste und das Kompakte: Symbolische Qualität

Die historische und technologische Entwicklung zeigt einen Weg vom Massivbau zum Leichtbau, vom Massiven zum Filigranen. Mit der Optimierung von Konstruktionen erfolgte eine Reduzierung und Auf lösung der Masse. Gottfried Semper hat im letzten Jahrhundert noch gesagt, dass sich damit keine “Monumentalität” erzeugen läst. “Monumentalität” ist für uns keine Qualität mehr.
Vielmehr sehen wir in der “Filigranität” den Fortschritt, weil er Ökonomie und Effizienz signalisiert. Wenn sich ein Bauwerk auflöst, lässt es sich leichter in die Umgebung integrieren, es steht nicht wie ein Klotz in der Landschaft, lässt Durchblicke zu und geht in der Umgebung auf.
Leichtbauwerke lassen die Landschaft intakt, sie stehen nur mit sparsamen Punkten auf der Erde. Sie signalisieren Respekt vor der gewachsenen Ur- oder Kulturlandschaft und verbrauchen weniger Boden. (Beispiel: Damm versus aufgeständerter Straße)
Leichtbaukonstruktionen erwecken den Eindruck, dass sie den Materialaufwand minimiert haben und sparsam mit den Resourcen umgehen. Man könnte in ihnen den Ausdruck ökologisch bewusster Gestaltung sehen.
Manchmal erwecken sie auch den Eindruck des Temporären. Man hat das Gefühl, dass man sie leicht beseitigen kann. Sie erscheinen nicht für die Ewigkeit gebaut wie der Petersdom oder das Strassburger Münster. Sie signalisieren Modernität, rufen Bewunderung hervor, ob ihrer Schlankheit und Filigranität. Sie sind Ausdruck moderner Konstruktionsweisen und hochstehender Bautechnologien.
Die spektakulären Leichtbauwerke der Ingenieure sind die “master models”, die stilistischen Vorbilder für andere Bereiche; der Architektur und des Design, wo allzu oft mit der Erscheinung allein die symbolische Wirkung “modern” erzeugt werden soll.

Leichtbaukonstruktionen symbolisieren Fortschritt und Modernität.
Mit der Auflösung findet auch ein Verlust an archetypischem Eindruck statt. Archetypen sind tief eingegrabene Muster, mit denen wir Begriffe, Gegenstände oder Bauwerke assoziieren. Wenn wir ganz spontan aufgefordert werden, z. B. eine Brücke zu zeichnen, so wird das vermutlich keine Seilbrücke sein. Mit dem Archetypischen verbinden wir die Vorstellung vom Wesen einer Sache und graben im Unterbewusstsein nach altvertrauten Mustern und Metaphern.

Die Flächengliederung: Formalästhetische Qualität

Der Sprayer von Zürich hat dem Unbehagen vor der ungegliederten Wand sichtbaren Ausdruck verliehen, dem “horror vacui” entgegengewirkt, indem er sie mit witzigen Sgraffitti belebt hat. Der Witz ist kurz1ebig und nutzt sich ab, ist eine nachträgliche Korrektur, aber die Botschaft ist deutlich. Wahrnehmungsmässig kann man sagen, dass das Auge auf der ungegliedertenFläche umherwandert und Halt sucht. In der Architektur lassen sich unendlich viele Beispiele finden, die mittels Licht die Fläche gliedern, indem sie sie strukturieren, rastern, rhytmisieren und dadurch beleben.
Die Flächengliederung kann man als einen formalen Kunstgriff ansehen, mit dem der Gestalter versucht, etwas unangnehm Voluminöses schlanker erscheinen zu las-sen, oder, auf einer Fläche, dem Auge Halt zu vermitteln und durch reliefartige Ge-staltung das Spiel des Lichts mit einzubeziehen um so, durch den ständigen Wechselder natürlichen Beleuchtung , die Wahrnehmung zu stimulieren.

“Ich beschäftige mich also mehr mit dem Thema Licht und Schatten und derenWirkung auf Musterung und Textur von Oberflächen als mit der Wahl von Farben”. (Calatrava, zitiert nach A. Colloquy).
Auch wenn Calatrava sich dieser Mittel bewusst ist, und der “Poet unter den Rationalisten” sie proklamiert, sind die Beispiele dafür im Igenieurbau nicht überzeugend. Viele Beispiele, die Betonfläche im rationalen Ingenieurbau zu beleben, wirken” ornamental”, kunstgewerblich, aufgesetzt und nicht “strukturell”, aus der Konstruktion entstanden, natürlich und folgerichtig.
Hier kann man Defizite ausmachen. Die Architekten scheinen bei den formalästhetischen Kunstkniffen mehr Tradition und Erfahrung zu haben, die Bauingenieure haben vielleicht das bessere Gefühl für Konstruktion und Ökonomie. “Grenzüberschreitungen” können neue Qualitäten hervorrufen.

Ablesbarkeit der Funktion: Zeichenqualität

Die Frage, ob man die Konstruktion zeigen solle, ist vielfach zum Glaubenskrieg hochstilisiert worden. Man argumentierte mit ethischen Formeln wie “ehrlich”, “konstruktionsgerecht”, “materialgerecht” und war sich sicher, im “Recht” zu sein.
Man zeigte sich als Anhänger funktionalistischer Gestaltung, berief sich auf Sullivans Ausspruch, dass die Form der Funktion folge und glaubte, mit dieser Formel den Schlüssel zu rationaler Gestaltung gefunden zu haben.
Mit Sullivans Formel, dass die Form der Konstruktion folgt, wollte man sich zudem von den Formalisten absetzen, bei denen die Form zuerst kommt und die, in den Augen der Funktionalisten, praktische und ökonomische Opfer zu Gunsten der Form in Kauf nehmen. Die Formel “form follows function” gilt weitverbreitet als das Fundament rationalistischer Gestaltung und hat ihren Stellenwert innerhalb der Ideengeschichte zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie will gewissermassen die Gestaltung zur Wissenschaft machen, ist auch verständlich aus der mechanistischen Denkweise des letzten Jahrhunderts, aber auch präsent bis in die jüngste Vergangenheit. “Es ist ein unbestreitbares Verdienst des historischen Funktionalismus, die Beziehung zwischen Form und Zweck thematisiert und das Design gegen die bildenden Künste abgegrenzt zu haben”, (Bonsiepe), was auch für den Ingenieurbau und andere angewandte Künste zutrifft.
Die Moderne hat andere Gestaltungsauffassungen entwickelt und die Funktionalisten gezwungen, über ihre Position nachzudenken. Das hat sich als ein heilsamer Prozess erwiesen, der auch den Glaubensstreit, dass nämlich aus der Funktion, gleichsam automatisch, die Form herauströpfelt, als müssig erscheinen lässt.
Sullivans Formel impliziert gewisserweise, dass die Funktion eine rationale Gegebenheit ist, aus welcher der Konstrukteur, Architekt oder Designer, mit Hilfe seiner konstruktiven und formalen Kenntnisse, die einzig richtige Form herauszudestillieren habe. Gui Bonsiepe sagt in einem interessanten Aufsatz über Sprache, Design und Software, “Formen folgen nicht deterministisch aus einer Funktion, und Funktion ist nicht eine Entelechie, (inneres Formprinzip), die in einer Form haust”.
Nimmt man das Beispiel Brücke, so ist ihre Funktion doch, etwas zu überbrücken, also zwei Orte über ein Hindernis zusammenzubringen. Das jedoch kann auf vielfache Art geschehen, man kann es mit einem Balken, einem Bogen oder einem Seil bewerkstelligen. Jede Konstruktionsform hat ihren eigenen Ausdruck und damit ihre eigene zeichenhafte und symbolische Bedeutung. Welcher Ausdruck, welche gestalterische Absicht verfolgt werden soll, ist das Ergebnis einer subjek-tiven Entscheidung, einer “Setzung”, mit welcher der gestalterische Vorgang “auf eine Schiene gesetzt wird”.
David Billington sagt deshalb auch in einer Schrift über Maillart: “Es wird immer wieder postuliert, dass die Form den Kräften folgen soll; aber wie man hier sieht, war Maillards Auffassung eine andere. Für ihn waren die Kräfte eine Folge der ausgewählten Form”.
Noch deutlicher wird der Setzungscharakter in Calatravas Kommentar zur Merida-Brücke:” Mir erscheint es natürlich viel adequater, dort ein ausgefallenes Objekt zu erstellen, ein technisches Wunder zu vollbringen, gerade innerhalb des Kontexts dieser technischen Unterentwicklung, die Merida prägt”. (Zitiert nach A. Colloquy)
Zurück zur Konstruktion:
Es gibt viele Äusserungen über Ingenieurbauwerke, die sagen, dass das Tragverhalten ablesbar sein soll. Sie beziehen sich z. T. auf moralische Positionen, wie schon dargestellt wurde, zunehmend aber auch auf andere, auf die Wahrnehmung und auf das Verstehen.
“Wenn die Gesetze der Wahrheit durchschimmern, können wir sie besser verstehen” sagt Behnisch und bezieht sich damit in seiner Wertung auf wahrnehmungsmässige und ethische Kategorien.
Die Wahrnehmungslehre ist sicher nicht die einzige Wissenschaft für die Entwicklung von ästhtetischen Kriterien aber hilfreich und, zumindest wahrnehmungsmässig, nachvollziehbar.
Sie sagt:
– dass Wahrnehmen ein aktiver Vorgang ist,
– dass wir beim Wahrnehmen selektieren,
– dass wir das am besten erkennen, was prägnant ist,
– dass prägnante Gestalten Aufmerksamkeit erregen und sich in unserem Gedächtnis einprägen,
– dass die prägmante Gestalt an sich nicht unbedingt schön sein muss,
– dass, um als schön empfunden zu werden, eine innere Logik erkennbar sein muss, eine formale und konstruktive Ordnung.

Das Sichtbarmachen der gestalterischen Absicht (die Setzung) und das Erkennbarmachen der Konstruktion, (ihre Um-Setzung) sind die Mittel des Gestalters, mit denen er den Warnehmenden für seine Gestaltungsleistung einnehmen kann.

Die räumliche Erfassung: Zeichenqualität

Jede Brücke ist, wahrnehmungsmässig und ästhtetisch betrachtet, ein plastisches Gebilde, das in die Landschaft gesetzt wurde. Im Unterschied zu kleinen Objekten, die man in die Hand nehmen und von allen Seiten betrachten kann, erschliesst sich der räumliche Charakter einer Brücke auf Grund seiner Grösse nur mit Anstrengungen. D. h. man muss sich auf die Brücke und unter die Brücke begeben, muss um die Brücke gehen, muss sie mit Füssen betreten und mit Händen befühlen, man muss sie aus der Nähe und aus der Ferne betrachten. Auch Beleuchtungsverhältnisse und Jahreszeiten spielen eine Rolle beim sinnlichen “Aneignen”, dem “Begreifen” eines Bauwerkes.
Das”Begreifen” ist der physische und psychische Vorgang, um einen Gegenstand zu erfassen, damit man ihn ästhetisch beurteilen kann. Dabei braucht der Betrachter nicht alle Ansichten. Er schafft sich, entsprechend seinem räumlichen Vorstellungvermögen, aus wenigen Ansichten ein räumliches Bild. Voraussetzung ist, dass die Teilansichten genügend Aufschlüsse geben. Wenn die Informationen ungenügend sind, behilft sich der Wahrnehmungsapparat und konstruiert wahrnehmungsmässig sinnfällige Schlüsse. Er sucht immer nach einer schlüssigen und plausiblen Gestalt (Gesetz von der “Guten Form”).
Er schliesst vom Ganzen auf´s Detail und vom Detail auf´s Ganze. Wenn z. B. der Benutzer einer Fussgängerbrücke einen wohlgestalteten Handlauf durch “begreifen” erfahren hat, schliesst er, dass dieselbe Sorgfalt auf das Ganze angewandt wurde. Das ist deshalb auch ein aus der Wahrnehmungslehre abgeleitetes Kriterium dafür, die physischen Kontaktstellen zu einem Bauwerk mit Sorgfalt zu behandeln. (Als Metapher: die wohlgestaltete Türklinke schafft die Einstimmung für die daran anschliessende Raumerfahrung.)
Die Gestaltung eines Bauwerkes sollte dem Betrachter und Benutzer entgegenkommen, weil die räumliche und strukturelle Erfassung die Voraussetzung für die positive Einstellung zum Gegenstand ist .
Bei Seilbrücken stellen sich ganz spezifische Wahrnehmungsprobleme. Das Seil, als ein äusserst filigranes Konstruktionselement, ist räumlich sehr schwer auszumachen. Es ist sehr dünn und besitzt keine Plastizität.Während eine Reihe von in der Tiefe gestellten Säulen leicht erkennbar sind, ist das bei Seilen nicht der Fall, weil das Auge den Unterschied in der Dicke nur schwer ausmachen kann. Das Auge sucht in solchen Fällen nach Anhaltspunkten, beispielsweise nach den Stellen, an denen das Seil festgemacht ist, um sich eine räumliche Vorstellung zu machen. Wenn es nicht genügend Anhaltspunkte gibt, konstruiert das Auge Annahmen, um zu einer räumlichen Vorstellung zu gelangen. Diese Annahmen gehen immer vom Einfachsten aus. (Die Ökonomie unserer Wahrnehmung)
Bei einer Schrägseilbrücke z. B. die man aus der Ferne betrachtet und bei der man einen Pylon sieht, nimmt das Auge zuerst einmal an, dass das Seilbündel in der Ebene liegt. Ergeben sich durch andere Standpunkte dann Seilüberschneidungen, ist das Auge irritiert.
Auch bei Abspann-Mustern sucht das Auge nach Ordnungen, nach kohärenten Mustern und verständlichen Strukturen. (“… damit ein vernünftiges Bild entsteht”, Schlaich).
Bei Büschel – Abspannungen z. B. ist das vertraute Muster: ein Aufhängepunkt, progressierende Winkel und gleiche Abstände bei der Fahrbahnaufhängung. Bei der Harfen-Abspannung ist das vertraute Muster: gleiche Aufhängungsabstände am Pylon, gleiche Abstände bei der Fahrbahnaufhängung und möglichst parallele Seile.
Liegen die Seile dicht nebeneinander, dann werden sie nicht mehr als einzelne Seile wahrgenommen, sondern als Seil-Ebenen. Sie haben einen stark raumbildenden Charakter. Eine Seil-Ebene muss ein durchgehendes Muster aufweisen, dass sie als solche wahrgenommen wird. Die Seil-Ebenen wirken dann wie transparente Wände, die als solche auch bei räumlich hintereinander liegenden Seil-Ebenen verständlich sind.
Das bei Seil-Ebenen im Raum entstehende Interferenz-Muster ist von jedem Standpunkt aus ähnlich und vertraut. Seil-Ebenen sind räumlich besser wahrzunehmen, als einzelne Seile.
Eine Vermischung der beiden Prinzipien ist für den Betrachter nicht verständlich und wirkt irritierend. Auch wenn das Seil ein fast unsichtbares Konstruktionselement ist, wird es wahrgenommen und dient der räumlichen Orientierung. Geordnete und verständliche Seilstrukturen sind die Voraussetzung dafür.

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